Den nachfolgenden Artikel publizierte ich am 26.2.2002 im Manager Magazin Online. Mit den richtigen Instrumenten hingeschaut, war bereits klar, dass die US-Wirtschaft ohne tiefgreifende Reformen auf eine Katastrophe zufährt. Damals war der letzte Zeitpunkt, wo man noch wirksam eingreifen hätte können. Zwar wäre das nicht ohne Schmerzen gegangen, aber das heutige Desaster hätte abgewendet werden können. FED-Chef Alan Greenspan meinte zu seiner Amtszeit, man könne spekulative Blasen nicht erkennen bevor diese platzen. Doch,  man kann, und zwar weit im voraus.
Wer das Wirtschaftsgeschehen in den USA,  wo die meisten Irrungen der letzten Jahre in Ökonomie und Management ihren Ursprung haben, nüchtern analysierte, kam früh zum Ergebnis, dass die US-Wirtschaftszahlen seit langem nicht stimmen konnten und es heute noch immer nicht tun.  Der sich über längere Zeit  allwissend gerierenden Analystenzunft hätte das eigentlich auffallen müssen. Man wäre damit allerdings gezwungen gewesen, die Schönrednerei und Schönrechnerei einzustellen. Es hätte praktisch die gesamte Beurteilung und Bewertung von Aktien in ein anderes Licht gerückt, den Überbewertungen die Basis entzogen und viele Menschen, die sich in gutem Glauben an den Analystenmeinungen orientierten, vor Schaden bewahrt.
1.    Das vielgepriesene und naiv bestaunte amerikanische Wirtschaftswunder der 90er Jahre hat nie stattgefunden. Es war ein Medienereignis – sonst nichts. Insbesondere sind die amerikanischen Wachstumsraten schon in ihrer offiziellen und veröffentlichten Form kei­neswegs grösser als in früheren Perioden, wie jeder Vergleich seit dem Zweiten Weltkrieg beweist.
Dazu kommt, dass sie durch den statistischen Effekt des sogenannten „Hedonic Price Indexing“ massiv aufgebläht waren. Das ist ein Paradebeispiel für exzellente Statistik und miserable Ökonomie, wie man das im zahlengläubigen Amerika häufig beobachten kann, von wo es durch die Medien unkritisch übernommen und rund um die Welt verbreitet wird. Der dramatische Preiszerfall bei Computern und sonstigem IT-Equipment sollte durch das Hedonic Price Indexing korrigiert und Einklang gebracht werden mit der ebenso dramatischen Verbesserung der Leistungskraft auf dem IT-Sektor. Der Effekt dieses „New Paradigm“-Gedankens war, dass die IT-Investitionen mit dem Zwanzigfachen ihres ökonomischen Wertes in die Berechnung des US-Sozialproduktes eingingen, was  die scheinbar phantastischen Wachstumsraten kreierte.
Real wurde dadurch selbstverständlich kein einziger Dollar mehr Volkseinkommen produziert, aber man hatte eine schöne Statistik. Hätte man Gleiches in Deutschland getan, und den wirtschaftlichen Wert der Automobilproduktion mit der dramatisch gestiegenen Leistungskraft der Motoren in PS gemessen nach oben korrigiert, wäre Deutschland mit Abstand an der Spitze der weltwirtschaftlichen Entwicklung.
2.     Es gab nie ein Produktivitätswunder, ausser in dem kleinen Segment der Her­stellung von Computern. Professor Robert Gordon von der Northwestern Uni­versity in Chicago ist einer der wenigen klarsichtigen Analytiker der publi­zierten Produktivitätszahlen. Wie er immer wieder gezeigt hat, gab und gibt es keine quantitative Evi­denz für die Behauptungen steigender Produktivität in der US-Wirtschaft. Einmal mehr glauben nur gewisse Consultingfirmen, die sich schon in anderen Fragen massiv getäuscht haben, an das Märchen von der Produktivitätssteigerung und propagieren es weiterhin mit dem Eifer von mittelalterlichen Dogmatikern.
Das wahre Produktivitätswunder der letzten 10 Jahre hat sich weitgehend unbemerkt in der deutschen Automobilindustrie abgespielt, die Anfang 90er Jahre weit zurück lag und heute weltführend ist.
3.     Die amerikanischen Gewinne waren kreativer Buchhaltung, zum Schluss bis an die Grenze der Fälschung von Bilanzen – und darüber hinaus – zu verdanken, aber nicht realer Wirtschaftsleistung. Sie sind erstens durch falsche Verbuchung von Stock Op­tions einschliesslich der daraus resultierenden Steuervorteile entstanden, zwei­tens durch die Aktivierung von Software-Ausgaben statt deren sofortige Ab­schreibung, drittens durch die mit den Stockoptions verbundenen tiefen Löhne und viertens durch Finanzmarktmanöver, wie etwa die Aktienrückkaufpro­gramme. Weitere Tricks kommen täglich zum Vorschein.
4.     Die Börsenhausse war nie auf echte Wertschöpfung gestützt, sondern auf die exorbitante Verschuldung aller amerikanischen Wirtschaftssegmente, zuletzt mit einem Faktor von eins zu drei. Das heisst, dass  für jeden Dollar zusätzliches So­zialprodukt rund drei Dollar zusätzliche Schulden erforderlich waren, um die realwirtschaftlich eher lahme US-Wirtschaftsmaschinerie nochmals zu bescheidenen Leistungssteigerungen zu bringen. Die öffentliche Verschuldung Amerikas steigt nach wie vor und ist heute höher als zu jedem früheren Zeitpunkt.
Die gesamten amerikanischen Wirtschaftszahlen der letzten 5 Jahre sind falsch oder wurden falsch interpretiert und medienmässig propagiert. Das Handeln der Menschen ist damit in eine falsche Richtung gesteuert worden, was wie­derum eine massive Fehlallokation der Resourcen zur Folge hatte. Dies führt jetzt, nachdem die Illusion einer stetigen Aufwärtsentwicklung der Konjunktur aufgegeben werden muss, zu massiven Korrekturnotwendigkeiten, deren Voll­zug viel Zeit beanspruchen wird, vielleicht so viel, wie in Japan.
Die Meinung, dass die amerikanische Wirtschaft so erfolgreich sei wegen ihres besonders guten Managements und ihrer fortschrittlichen Corporate Go­vernance ist falsch – und die naive Nachahmung amerikanischer Denkweisen und Methoden in Europa und Asien ist gefährlich. Es gäbe vieles von Amerika zu lernen; Management und Wirtschaftspolitik gehören aber nicht dazu.